Los Muchachos besuchen

Während ich einen Wohnsitz habe, möchte ich gern den Berg der Insel erklimmen. Am Tag meines Einzugs prüfe ich den Wetterbericht. Er zeigt ab übermorgen gutes Wetter auf dem Gipfel, morgen aber noch nicht. Der Bericht wurde leider in der Form aktualisiert, dass diese Aussage die ganze Woche lang korrekt war. Da ich am Freitag ausziehen muss (und drei meiner Packtaschen nicht mitnehmen möchte) ist Donnerstag meine letzte Option. "Was genau nehme ich mir da vor?", frage ich mich. Ab der Haustür geht es gut 50 km fast nonstop bergauf. Jetzt könnte man fragen, warum ich keine Radtour auf Meeresniveau mache oder an den Strand liege. Von beiden Aktionen weiß ich, dass ich sie ausführen kann. Was das Bergerklimmen angeht, muss ich es erst noch rausfinden - und die Gelegenheit möchte ich nutzen.
Die Aussicht auf diese Tour macht mich etwas nervös, ich kann aber nicht genau sagen, warum.

Der Wecker klingelt, ich frühstücke ausgiebig und sitze kurz vor 9 auf dem Rad. Mit nur einer Packtasche legt das 19-kg-Rad eine ungeahnte Agilität an den Tag. Auf die ersten Meter zappel ich ungewollt wild mit dem Lenker. Die dämpfende Masse fehlt ganz eindeutig. Genau so -nur umgekehrt- ging es mir auf meinen ersten Metern im Oktober in Stuttgart.

Obwohl es im Schatten des Barrancos morgens noch recht frisch ist, fang ich ab Kilometer 2 an zu tropfen. Bis zum Gipfel sollen dann noch ein paar weitere dazu kommen. Am Ende des Tages werde ich gut sechs Liter Wasser getrunken haben. Ich fahre die LP-1, auf der ich zuletzt in der Gegenrichtung unterwegs war, wieder zurück nach Norden. Zwischendurch geht es auch mal etwas bergab, allerdings beschränkt sich das summarisch auf gut 300 m. Nach halber Strecke mache ich eine Pause und frühstücke nochmal. Im Vergleich zu den besten Brötchen, die ich finden konnte, weist sich Zwieback durch hervorragende Duktilität aus. Mir fehlen meine Brezeln 😭
 

Auf meinem Weg nach oben durchs saftige Grün fühle ich mich wieder etwas ans Alpenvorland erinnert. Zwischendurch immer wieder auftauchende Kakteen machen die Illusion allerdings deutlich.
Die ersten 40 km geht es normal, dann nach dem Wechsel auf die LP-4 steil bergauf. Das saftige Grün wird durch Nadelwald (und dem zugehörigen herrlichen Duft) abgelöst.
Ich mäandere mich hoch. Die Straßenverhältnisse sind stellenweise nicht so gut, der Verkehr ist aber sehr dünn, sodass ich den unebenen Stellen ausweichen kann. Die wenigen Fahrzeuge, die ich sehe, sind meist Mietautos: gelenkt von (vermutlich deutschen) Touristen.
Ich passiere eine Schranke, die scheinbar bei schlechtem Wetter geschlossen ist. Von einer Bekannten habe ich erfahren, dass sie schon drei Mal auf La Palma war und jedes Mal war die Schranke zu. Ich habe Glück: sie ist offen - und dass trotz der vorhergesagten Sturmböen.
 

Den letzten Baum hab ich irgendwann passiert und entdecke etwas später Schnee auf der Bergkuppe. Dazwischen stehen diverse Sternwarten und Teleskopspiegel von beeindruckender Größe. Wie gerne würde ich von hier aus die Sterne beobachten (zumal fast Neumond ist). Wiederholt fordern Straßenschilder Autofahrer auf das Fernlicht nicht zu benutzen.
Die Landschaft wirkt auch hier wieder lunar. Obwohl (oder weil?) ich mich auf die letzten Kilometer auch während der Fahrt mit Zucker versorge, wird mir kurz vor dem Gipfel ziemlich schlecht. Ich frage mich, ob das Salz auf meinem verkrusteten Trikot nicht sinnvoller in meinem Körper aufgehoben wäre. Später stelle ich zu Hause fest, dass ich wie ein invertierter Waschbär aussehe: mit weißen Salzringen um die Augen 🤣
Dann entdecke ich die Autos auf dem Parkplatz. Nach ein paar weiteren Kurven komme ich endlich an. Ich stell das Rad ab und mach mich an meine Vorräte.
Nachdem ich mich wieder etwas intakt fühle, laufe ich auf einem Bergkamm zu einem Aussichtspunkt. Mit den geschundenen Beinen dauert es eine Weile bis ich den Punkt erreiche. Auch hier kommen mir ein paar Touristen entgegen - dieses Mal zu Fuß. Eine Wolke "fließt" in der Ferne über einen Bergrücken. Richtung Südwesten sehe ich die Gegend, von der aus ich heute morgen gestartet bin. Luftlinie ist das auch nicht so richtig weit weg.

 


Ich setze mich und denke drüber nach, wie interessant es ist, dass mir Menschen wie noch nie in meinem Leben zuvor Respekt und Anerkennung entgegen bringen. Ich habe Abi gemacht, Maschinenbau studiert, war Ingenieur in einem Weltkonzern; Beispiele für die Dinge, die für viele von uns wertvoll und erstrebenswert sind. Jetzt aber sagen mir die Leute, wie toll sie finden, was ich mache. Mein warmer Dank an alle, die sich jetzt angesprochen fühlen. Darüber freue ich mich sehr und stimme dem auch uneingeschränkt zu. Es bestärkt mich in dem, was ich tue, sollte ich jemals Zweifel gehabt haben.

Ganz nüchtern betrachtet fahr ich aber nur Fahrrad, führe in den Augen mancher das Leben eines Gammlers. Zwei ganz einfache Dinge, die prinzipiell jeder von uns drauf hat 😅
Der eigentliche Unterschied ist vielleicht der, dass ich bisher einer von vielen Zehntausenden war, bin in der Blase der mich umgebenden Normalität mitgeschwommen. 

Jetzt bin ich einer aus einer Handvoll, der sich entschlossen hat auf's Rad zu steigen. Wenn also das was ich tue für sich betrachtet keine große Sache ist, kommt der Zuspruch vielleicht daher, dass ich etwas anderes tue, als die meisten. Das ist einen Gedanken wert, finde ich.

Ich wackel zurück zum Fahrrad, zieh mich an und lass rollen. Ich fahr wieder Ideallinie über die ganze Straße, versuch die Scheitelpunkte nochmal besser zu treffen und freu mich wie - naja, eben wie ich auf einem Fahrrad 🤗
Es wird immer wärmer und grüner.
Die nur 300 m, die ich auf dem Rückweg steigen muss, fallen mir schwer. Kann mich gar nicht entsinnen, vorhin doch so viel bergab gefahren zu sein 😅 Meine Beine haben genug für heut, ich glaube ich höre sie "Strand!" rufen.
 

Ich rolle vor die Haustür. Bis in den dritten Stock ist es von hier aus noch ein sehr weiter Weg! Die zweite Bergbesteigung heut. Irgendwann fällt dann die Wohnungstür ins Schloss. Ich wasche meine Sachen und mich und pack meinen Rucksack, um meinen Beinen einen Gefallen zu tun.

Kommentare

  1. Ich bin sooo stolz auf Dich!!!

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  2. Ich glaube jeder hat schonmal den Wunsch verspürt, zumindest für eine Zeit lang aus der "Normalität" auszubrechen. Die wenigsten haben den Mut, es tatsächlich zu tun. Schön, dass du uns daran teilhaben lässt!
    Bin irgendwie auch stolz auf dich 😘

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  3. Nach wie vor freue ich mich immer wieder über einen neuen Blogpost von Dir, dieses Mal hats mir den aber erst heute angezeigt, komisch. So langsam ist das spannender als jede Netflix Serie, denn man weiß nie, welche Abenteuer von Patrick und seinem Fahrrad als nächstes drin stecken. Es ist wirklich klasse über deine Texte mitzuerleben, was für Eindrücke du sammelst und vor allem welche Orte du erreichst - nur mit einem Fahrrad, einer gehörigen Portion Willen und Zeit. Ich wünsche Dir weiterhin viele pannenfreie Kilometer und prägende Erlebnisse!

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