Nummer vier
Die Nacht war uneben und leicht abschüssig. Zu sehr, um wirklich gut zu schlafen. Um sieben bin ich wach. Vermutlich auch deshalb, weil die Vögel um die Zeit schon sehr aktiv sind.
Ich packe zusammen, löse die Schnecken von der Plane und starte in den Tag. Schon auf den ersten Metern spüre ich einen sinusförmigen Widerstand beim Fahren. Ich halte an und seh mir das Hinterrad an: Speiche gerissen. Zum vierten Mal in gut etwas mehr als einem Jahr 🙄 Mich beschleicht ein sehr starkes Gefühl, dass das mit dem katastrophalen Feldweg gestern zusammen hängt. Dort konnte ich mir nicht nur auf wenige Kilometer den Hintern und die Handgelenke fein mahlen lassen, nein, ich konnte auch binnen Minuten mehrere tausend Straßenkilometer simulieren. Warum sollte man auch auf der benachbarten Landstraße auf Asphalt fahren, wenn man sich auf einem Feldweg, der optisch bald schon nicht mehr von einer Wiese, auf der mal ein Trecker gefahren ist, zu unterscheiden ist, Körper und Material kaputt machen kann? Und das ganze bei dem nur fünffachen Energieaufwand! Ich dachte Google wird mich anders als komoot nicht in die Pampa schicken. Aber was beklage ich mich? Ich bin selbst Schuld, hab meine only-Asphalt-policy sträflich missachtet - schon wieder. Und jetzt bekomme ich die Quittung.
Ich löse also die Hinterradbremse und fahre weiter. Hoffend, dass die restlichen 35 Speichen bis Deutschland halten. Ich hab wirklich keine Lust ein weiteres Mal ein so minderwertiges Produkt kaufen zu müssen. Das bisher in Laufräder investierte Geld hätte ich lieber mit Black Jack & Nut...ella verprasst! 😅 Ich meine, das erste Laufrad war nach neun, das aktuelle nach drei Monaten hinüber. Du weißt, das Du ein massives Qualitätsproblem hast, wenn die jüngst getauschten Komponenten an einem >30 Jahre alten Fahrrad als erstes krepieren. Also wenn euch Laufräder namens "ZAC" in die Hände fallen sollten: sofort ins Fegefeuer damit! Oh, der Hersteller kann sich auf eine Email gefasst machen - eine mit fetten Lettern! 🤣
Ebenso ab der ersten Minute der heutigen Etappe bläst mir der NO Wind auf die linke Gesichtshälfte. Der Wetterbericht sagt "leichter Wind". Das halte ich für ein Gerücht! Ich bin wirklich kein Windexperte, aber wenn sich die Grashalme und Äste an den Bäumen biegen, die Fahnen hörbar flattern und die Blätter rauschen dann ist der Wind aus meiner Sicht eher nicht "leicht". Es geht entsprechend mühsam voran. Und die Kette springt! Ich muss an mich halten. Da ich fast ausschließlich von Feldern umgeben bin, bin ich das erste Hindernis, auf das der Wind seit 100 km trifft. Mein linkes Ohr wird kalt, ich zieh meinen Röhrenschal über.
Immer geradeaus, an immer noch mehr Feldern vorbei. Ihr müsst euch die Gegend mal aus Satellitenpespkive anschauen!
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Hier und da ein Feld |
Sehr wenig Verkehr, also auch keine an mir vorbei knallenden LKW, die den Wind etwas zu meinen Gunsten drehen würden. Ab und zu mal ein Dörfchen, alles zu, meistens niemand zu sehen, kein Laden o.ä. Wenn ich aus dem Windschatten der Häuser rausfahre drückt es mich wieder Richtung Straßengraben.
Danach noch weiter geradeaus. Der heutige post hätte den Titel "tout droit" noch mehr verdient. Bänke gibt's hier auch nirgends. Ich mach die erste Pause - auf dem Boden. Beim Wasserlassen entdecke ich eine Zecke an einer recht delikaten Stelle (das müssen genug Hinweise gewesen sein 😂) - zum zweiten Mal in meinem Leben! Es ist so wenig Verkehr, dass ich direkt am Straßenrand die Pinzette auspacken kann 😅
Irgendwann erreiche ich Chalon-en-Champagne. Hier sehe ich ein paar Menschen auf den Straßen. Ich geh kurz in einem Minimarkt mit wieder sehr übersichtlicher Auslage einkaufen und mach außerhalb der Stadt Pause Nummer zwei an einem schönen Kanal. Mangels Bänken wieder auf dem Boden. Ich hab heut wirklich stundenlang keine Bank gesehen. Und die wenigen, versprengten die ich gesehen habe, standen original immer am anderen Ufer des Kanals. Aber immerhin fahr ich nicht mehr durch das windige, nicht endende Meer aus Feldern. Links und rechts des Kanals stehen Bäume, die den Wind abhalten. Hab mich schon lang nicht mehr so über etwas Abwechslung in der Landschaft gefreut!
Ich sitze also essend am Boden. Die Radfahrer und Fußgänger kommen an mir vorbei, grüßen und/oder wünschen guten Appetit. Manche halten an, manche fragen im vorbeifahren, wo ich herkomme und rufen nach meiner Antwort "bon voyage!". Ein älterer Herr sagt beim Anblick meines Rads "ula, ula, ula, c'est du chargement!". Ich bin eigentlich ständig mit irgendjemandem im Gespräch 🙂 Vielleicht hab ich mein Leben lang etwas falsch gemacht, aber von zu Hause kenne ich das nicht. Zum Schluss kommt eine ältere Dame, Mitte 70, an mir vorbei. Sie meint, langsam werde es Zeit zum Umkehren, sie sei von Chalon hierher gelaufen (ca. fünf km). Wir sind uns schnell einig, dass es hier zu wenig Bänke gibt. Sie fängt an zu erzählen, dass sie auch immer gerne auf Reisen gegangen wäre. Aber sie habe mit 18 bereits das dritte Kind gehabt und war durch das Kinder-Großziehen und Haushalt absorbiert. Jetzt wohnen sie teils im Ausland und es gibt wenig Kontakt. Sie habe ein alte-Leute-Telefon, weil sie nun vieles nicht mehr beherrscht oder lernen kann. Sie traut sich wenig zu und hat vor vielen Dingen Angst. Wir unterhalten uns bestimmt 20 Minuten. Ich werde immer bedrückter, wenn ich sehe, wie sie mit ihren Selbstvorwürfen in Fahrt kommt. Ich versuche ihr Mut zu machen, dass man auch in ihrem Alter neue Dinge ausprobieren kann und darf. Ich nenne das Beispiel meiner Mutter, die auch WhatsApp beherrscht 🤗 Für sie tut mir das sehr leid, es bestärkt mich aber an meinem Plan festzuhalten und nichts auf die lange Bank zu schieben. Zum Schluss sagt sie: "ich kenne Sie zwar nicht, aber ich bin stolz auf Sie." Wow! 🤗
Weiter geht's am Wasser. Die Gesamtzahl der Bänke an diesem Kanal: genau null. Zwischendurch führt mich mein Weg wieder durch Felder/Dörfer und dann weiter am nächsten Kanal.
Die Beine werden müde und ich hab schon wieder massiv Hunger. Vor einem Dörfchen, in dem ich morgen früh frische Baguettes zu bekommen hoffe, bieg ich rechts ab. 20 m - ok, passt. Da der Wind immernoch durch die Äste pfeift, bin ich froh hinter einer Hecke etwas geschützt zu sein. Ich esse und stelle etwas später das Zelt auf.
Wir sind schon immer stolz auf dich T. Schön, dass es die Franzosen nun auch blicken durften:-)
AntwortenLöschen🙂🤗
LöschenHallo Patrick! Lese noch jeden Artikel aus deinem Blog. Tolle Reise die du da machst. Habe gestern eine 10er Packung Toilettenpapier geöffnet und musste prompt an Dich denken. Das nennt man Konditionierung 😉. Liebe Grüße und weiterhin gute Reise....Thomas S
AntwortenLöschenHi Thomas! Danke, das freut mich sehr! Wenn mir das jemand vor zwei Jahren gesagt hätte: Deine Kollegen werden beim Öffnen des Toilettenpapiers an Dich denken 😅🤗
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