Schweizer Kapitän
Ich glaub seit meiner pränatalen Phase habe ich nicht mehr so lange in der Embryonalstellung verharrt. Morgens hat's keine sieben Grad im Zelt. Die Feuchtigkeit kondensiert auf der kalten Bodenplane, sodass alles, was nicht schwebt, auf der Unterseite feucht ist.
Heut weckt mich nicht der unverkennbare Klang eines geradverzahnten Baggergetriebes, sondern das Wummern eines Schiffsmotors. Direkt vor meinem Haus ist eine Schleuse. Ein Schweizer Kapitän wartet geduldig bis das Becken voll ist. Ich frühstücke und beobachte das "Spektakel".
Der Betreiber der Schleuse ignoriert mich während ich das Rad wieder rauswuchte. Los geht's, rein in die Pedale. Für ein paar Augenblicke ist es tatsächlich sonnig, kurz drauf schieben sich die Wolken wieder in den Vordergrund. Heute mal kein Nebel - dafür Regen. Schon am Vormittag hol ich das erste Mal das Poncho raus. Nach 30 km halte ich es bereits für sehr unwahrscheinlich, dass ich heute das "Soll" von 100 km schaffen werde. Gemessen an der Helligkeit und meinem Erschöpfungsgrad müsste es bereits 16 Uhr sein. Tatsächlich ist es nicht mal 12. Ich bin ziemlich erschöpft, freue mich aber über das zumindest bessere Wetter. Es macht einen massiven Unterschied, ob man bei vier Grad und Nebel oder bei acht mit on-off-Niesel unterwegs ist.
Dennoch pfeift mir der Wind unangenehm über meine feucht gekleideten Schultern. Ich halte kurz unter einer Brücke, um mich umzuziehen. Danach tausche ich die Anziehreihenfolge der Jacken. Die Überschuhe, die ich mir notdürftig um die Knie wickeln will, bleiben nur wenige hundert Meter auf Position, bevor sie meine Unterschenkel wärmen.
Seit dem Start der Tour bin ich fast ausschließlich auf Radwegen unterwegs, was ich super finde. Allerdings fährt man dann auch öfters an den wenigen vorhandenen Orten vorbei, als hindurch. Die erste Einkaufsmöglichkeit finde ich heute kurz vor Sonnenuntergang und das auch nur, weil ich nach "Lebensmittel" navigiert habe. Die Kassierinnen wollen fast ausnahmslos den Inhalt meines Rucksacks sehen. Ich präsentiere mein Reiseproviant gerne und frage mich, wie man jemals herausfinden möchte, ob ich die z.B. Prinzenrolle mitgebracht habe oder sie hab mitgehen lassen. (natürlich ist Ersteres der Fall!) Ich sage dann auch, dass das Lebensmittel sind, aber nicht aus diesem Laden. Ein gelangweilter Blick, kurzes Nicken. Ihr Soll ist erfüllt.
Die Sonne ist zwischenzeitlich untergegangen. Mit vollen Taschen fahre ich ein Stück zurück Richtung Fußballplatz, an dem ich zuvor vorbeigekommen bin. Das Vereinsheim daneben hat einen überdachten Eingangsbereich. Den schau ich mir genau an. Über den gekiesten Parkplatz fahr ich im Halbdunkel auf das Gebäude zu. Der Eingang ist genau eine Zeltbreite tief, perfekt.
Noch während ich esse (also bald nach der Ankunft! 😃) fährt ein Fahrzeug auf den Parkplatz und hält. Ich lege mir schon die richtigen Vokabeln zurecht. Doch kurz drauf fährt es schon wieder weg.
Ich löffle meine erste Dose Kichererbsen und stelle fest, wie ich diesen Geschmack mit Freiheit verbinde 🙂
Kommentare
Kommentar veröffentlichen