Von der Nord- an die Westküste
Auch ohne Wecker schlafe ich nicht wirklich lang. Dafür frühstücke ich jetzt gemütlich im Zelt, anstatt wie sonst vor dem ersten Tageslicht alle Spuren eines "Wildcampers" zu verwischen. Die Nächte auf Meeresniveau bringen unweigerlich Steigungen zum Frühstück mit sich. Ich mäander den Berg hoch. Meine Wasservorräte sind fast erschöpft. Teils ist es so, dass ich Nahrungsmittel tagelang ungenutzt mit mir herumtrage, teils komm ich doch nicht mehr an der erhofften Einkaufsmöglichkeit vorbei und muss -so wie jetzt- rationieren.
Zurück auf die Hauptstraße auf gut 600 m. Von dort ausgehend soll es heute noch weitere 600 m auf den Peak dieses Abschnitts gehen. Bevor es soweit ist, finde ich einen Picknickplatz mit Holzbänken in der Sonne und fließend Wasser. Ich fülle meine Flaschen und trinke mich danach vorsichtig sitt. Das Wasser ist so kalt, dass ich die Flasche erstmal in die Sonne stellen muss, um mir nicht das Gehirn einzufrieren. Da nur vereinzelt Autos vorbei kommen, entschließe ich mich meine Klamotten (alle) zum Trocknen auf den Bänken zu verteilen. Dann gibt's das zweite Frühstück.
Nach vielleicht einer dreiviertel Stunde zieh ich mich wieder an und bereite die Weiterfahrt vor. Wirklich einen Augenblick später laufen zwei Wanderer über den Picknickplatz an mir vorbei. Die habe ich nicht kommen sehen! Ich freu mich das Beinkleid zum gewählten Zeitpunkt angelegt zu haben 😄
Es ist eine wunderschöne Strecke durch den Nordwesten der Insel. Die bisher erstsahnige Straßenbeschaffenheit der LP-1 bekommt im Westen Abzüge in der B-Note, da sich Risse und Querfugen mehren. Auf dem letzten Drittel der heutigen Tour gehe ich einkaufen und biege auf knapp 700 m zum sechs Kilometer entfernten Playa De La Veta ab. Es geht steil bergab, die Straße ist schmal und in schlechtem Zustand. Meist gibt es an den Kehren keine Leitplanken, sodass man bei Ausfall der Bremsen die letzten paar hundert Meter direkt ins Meer schießen würde. Ich frage mich, ob mein Rad irgendwann zum Liegen kommen würde oder ob es tatsächlich das Meer erreicht. Ich bin mir nicht sicher, schiebe bzw. ziehe folglich bergab und erreiche irgendwann einen Parkplatz. Drei Autos stehen dort.
Von hier aus geht der Fußweg weiter. Noch steiler bergab. Kurz darauf muss ich einen ca. 15 m langen Tunnel passieren, durch den ich mit dem Rad geduckt gerade so durchpasse. Danach wird der Fußweg zu einem schmalen, gekiesten Pfad entlang der Felswand. Ein wackliger Maschendrahtzaun soll den Absturz in die Tiefe verhindern. Wenig vertrauenerweckend. Die darauffolgenden Stufen tu' ich mir nicht mehr an, lehne mein Rad an die Felswand und laufe den Rest. Das ist das erste Mal, dass ich mich soweit von meinem Rad entferne, während es im Freien steht. Ich habe aber ein gutes Gefühl, dass sich das hier niemand antun würde. Nach weiteren 10 Minuten über Stufen und Geröll bin ich dann auch endlich da.
Wahnsinn, hier unten leben tatsächlich Menschen! Eine Hand voll kleiner Häuschen steht direkt unter dieser Felswand am Meer. Ich weiß zwar nicht wie berechenbar Erosion ist, so richtig wohl würde ich mich unter der Felswand wohnend aber nicht fühlen. Zumal ich schon ein Haus gesehen habe, das ein großes Loch in der Betondecke aufwies mit einem ähnlich großen Felsen, der wie zufällig in der Eingangstüre lag.
Überall stehen oder hängen Solarpanels, fließend Wasser scheint es hier auch zu geben. Dennoch hoffe ich, dass die Einwohner dieses Dörfchens ihre Einkäufe per Boot oder wahlweise Hubschrauber erledigen.
Eigentlich hatte ich mir ausgemalt den Tag mit einem erfrischendem Bad im Meer zu beenden, allerdings lassen die Wellen das nicht zu. So sitze ich auf den Steinen und beobachte das Meer.
Die vier anderen Strandgäste sind irgendwann weg. Um den Rückweg zum Rad wieder zu finden, gehe ich auch schon vor Sonnenuntergang wieder hoch. Auf dem schmalen Pfad bekomme ich mein Rad um ein Haar nicht gewendet, muss einen gehörigen "wheelie" machen. Mein Zelt schlage ich auf einem kleinen Platz hinter dem Tunnel auf. Während meines Abendessens in der Dunkelheit werde ich offenbar von einem Gelbschnabel-Sturmtaucher umflogen. Das klingt ziemlich genau so: Gelbschnabel Sturmtaucher
Der nächste Morgen. Frühstück. Die Stimmung ist so mittel, da ich genau weiß, was auf mich zukommt: der Weg zurück zur Hauptstraße. Ich starte viertel nach acht, steige gar nicht erst auf, sondern schiebe direkt. Bereits das Stückchen bis zum Parkplatz ist es schon eine Herausforderung. Nach zehn Minuten lösen sich die ersten Tropfen vom Gesicht. Ständig werde ich von irgendwelchen Hunden angebellt. Einer von ihnen steht plötzlich vor mir auf der Straße und kläfft heiser, während ein weiterer, ein Schäferhund, auf der richtigen Seite des Zauns steht: dahinter. Ich kann mich vorbeiwieseln.
Nach eineinviertel Stunden erreiche ich die Straße. Das war seit Stuttgart der intensivste Abschnitt - aber sowas von! Interessant, wie die bisherigen Extrema immer wieder relativiert werden. Meine Kleidung wiegt nun das dreifache. Das Frühstück von vorhin (Brot, Käse, Oliven und zwei Müsliriegel) ist restlos verbrannt. Das kann ich im Prinzip grad nochmal essen, muss nur vorher einkaufen. Dieser Umstand erklärt auch teilweise, warum meine Kosten für Lebensmittel ggü. Stuttgart um 44% gestiegen sind 😅
Strava meint, ich sei auf einem Segment dieses Stücks der Zehntschnellste weltweit. Das liegt meiner Vermutung nach darin begründet, dass exakt zehn Menschen dumm genug waren diesen Strand mit dem Rad besucht zu haben 😂 (tatsächlich waren es 13).
Ich geh einkaufen und mache eine Frühstück-Nr.-2-Pause auf einer Bank in der Sonne. Ich wundere mich kurz, warum der Wind so kalt ist. Dann wird mir klar, dass ich mich immernoch auf 700 m befinde. In den Höhenlagen im Norden, die ich hinter mir habe, hat es laut Wetterbericht aktuell Wind mit bis zu 8 bft. Nichts wie runter ans Meer!
Ich fahre weiter nach Puerto de Tazacorte, womit ich die Insel zu gut der Hälfte umrundet habe. Die letzten 10 km geht es auf einer gut ausgebauten Straße zurück auf Meeresniveau. Auf einer langen Geraden mach ich die Bremsen auf. Mir kommt ein LKW entgegen. Dieser wird von einem Motorrad überholt - auf dem Hinterrad. So richtig viel Platz war zwischen uns nicht mehr. Über die Relativgeschwindigkeit will ich gar nicht nachdenken.
Hier unten am Meer ist es wieder deutlich wärmer. Ganz nette Promenade, Sandstrand (seltens Phänomen), große Wellen, relativ viele Menschen und eine Pizzeria (die mir schon empfohlen wurde)! Ich miete mir eine Wohnung für eine Woche und freue mich wieder über Bett, Wasser, Strom, WLAN, ... plus dieses Mal auch Strandnähe.
Hast du eine Excel Tabelle für Lebensmittel erstellt?: 44% gestiegen🤣 dann gutes chillen 1 Woche.
AntwortenLöschenMega entspannend nach den ersten nerv-Terminen am Morgen erstmal Deine Berichte zu lesen! Vielen Dank dafür! :-)
AntwortenLöschenOh yeah, nach wie vor grandiose Updates :)
AntwortenLöschenWenn es eine "vollbepacktes Tourenbike"-Kategorie bei Strava geben würde, wärst Du sicherlich auf Platz 1 :D