Plädoyer für einen neuen Ansatz
Von der Entstehung und den Folgen unserer Drogenpolitik
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Wer kennt ihn nicht, den Marihuana-shot? 😂 |
Das ist wieder ein off-topic Beitrag, den ich am 20.12.20 angekündigt habe ("Aber dazu komme ich noch.").
Aus meiner persönlichen Sicht steht die Prohibition stellvertretend als Beispiel für eine Politik, die uns heute an verschiedensten Stellen begegnet. Damit meine ich politische Entscheidungen, die wissenschaftlich nicht nachvollziehbar sind, die im Partikularinteresse gefällt werden und auf der anderen Seite einer viel größeren Gruppe direkt oder indirekt schaden. Manchmal besteht die größere Gruppe, die der Leidtragenden, aus ein paar tausend Menschen (Verschleppung des Tabakwerbeverbots), manchmal einem Großteil der Bevölkerung (Zickzackkurs beim Atomausstieg) oder aus allen zukünftigen Generationen (Klimapolitik).
Aus meiner Sicht geht uns so ein bisschen das ehrliche Hinschauen flöten. Anstatt die Fakten als solche zu akzeptieren und logisch, wissenschaftlich nachvollziehbar zu folgern (was, wie wir zu Beginn der Pandemie gesehen haben, in Deutschland prinzipiell möglich ist), werden - wie besonders in unserer Drogenpolitik deutlich wird - Tatsachen, wissenschaftliche Untersuchungen und Expertenmeinungen mit großem Elan ignoriert und dann Argumente hervorgebracht, die einem körperlich wehtun. Kostprobe zum Einstieg gefällig?
"Nur weil Alkohol gefährlich ist, unbestritten, ist Cannabis kein Brokkoli." (Ludwig)
Den
Entscheidern liegen die Fakten vor und diese versuchen sich weiterhin mit seit
Jahren widerlegten ("Einstiegsdroge") oder scheinheiligen
("falsches Signal") Argumenten über Wasser zu halten. Es scheint, als würden die Fakten ausgeblendet und nicht im Sinne der Wähler, sondern nach eigenen, ganz persönlichen Überzeugungen gehandelt.
Andererseits muss man auch sehen in welch unvorteilhafte Position sich die Politik hineinmanövriert hat. Hier ist vor Jahrzehnten ein Schneeball ins Rollen gekommen, der heute nicht leicht zu stoppen ist. Ein Politiker, der sich endlich entschließt sich zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu bekennen, tut zwar das Richtige, gibt aber gleichzeitig seine Glaubwürdigkeit ab, weil er bis gestern eine Lüge unterstützt hat.
Vorab möchte ich betonen, dass ich zu diesem Thema nichts schönreden oder verharmlosen möchte. Mir geht es im Kern darum dieses himmelschreiend unsachlich behandelte Thema zu diskutieren und für eine neue Politik zu plädieren - völlig unabhängig davon ob ich mit dem Thema persönlich "entangled" bin.
Wenn unsere Verbotspolitik ihr erklärtes Ziel wenigstens teilweise erreichen würde, wären die negativen Nebeneffekte noch irgendwie zu rechtfertigen. Auch wenn ich mir das schon herausfordernd vorstelle. Dass sie aber so krachend scheitert und gleichzeitig Kollateralschäden und immense Kosten verursacht, wirft bei mir die Frage auf, warum wir trotzdem immer weitermachen.
Dazu passend und aktuell im DLF: Drogenpolitik in Deutschland - Zeit für einen Strategiewechsel?
Der Krieg gegen Drogen
Vor gut einem halben Jahrhundert wurde der Krieg gegen die
Drogen ausgerufen. Das ursprüngliche Ziel sollte eine drogen- und damit
problemfreie Welt sein. Diesem Ziel sind wir seither kein Stück näher gekommen, wir haben uns trotz aller Maßnahmen davon entfernt. Zusätzlich wurden durch die doch meist sehr militante Herangehensweise
sehr viele Probleme erst geschaffen. Deutschland investiert jährlich sechs Mrd.
Euro in den Drogenkrieg.
Erst
kürzlich wurden in Hamburg 16 Tonnen Kokain mit einem Marktwert von mehreren
Milliarden Euro beschlagnahmt. Die Fahnder klopfen sich ob dieses „Erfolgs“
selbst auf die Schulter, ahnen aber auch, dass dieser Schlag nahezu nichts an
der Gesamtsituation ändert. Solche oder ähnliche Funde werden in regelmäßigen Abständen gemacht und das
bedeutet zwei Dinge:
1.) es existiert eine Nachfrage trotz aller Verbote und
2.) es gibt Menschen, die trotz der Risiken bereit sind
diese Nachfrage zu bedienen
Wenn eine Lieferung beschlagnahmt wird, ist das erstmal ein
schlechtes Geschäft für den betroffenen Lieferanten (ein Elfenbeinrückenkratzer
weniger für ihn). Gleichzeitig stehen aber schon diverse andere Anbieter in den
Startlöchern und warten drauf für den Ausfall einzuspringen und das Geschäft zu
machen.
Bei den gigantischen Ausmaßen des weltumspannenden
Warenverkehrs (Tendenz zunehmend) wird von Seiten des Zolls immer nur ein verschwindend kleiner Teil
geprüft werden können. Von diesem verschwindend kleinen untersuchten Teil ist
ein weiterer kleiner Teil ein „Treffer“. Es ist und bleibt ein aussichtsloser
Kampf gegen Windmühlen, bedeutet die 16 Tonnen sind ein kleiner Teil eines
kleinen Teils. Die „Spitze des Eisbergs“ ist m.E. schon eine Übertreibung.
Der Rechtswissenschaftler Thomas Fischer schreibt in seiner
Kolumne:
„Jedes Mal, wenn irgendwo ein Innenminister eine Tonne
beschlagnahmte Drogen präsentiert, sagt er dazu, dies sei mal wieder die Spitze
eines ständig wachsenden Eisbergs und allenfalls ein Schatten der Wirklichkeit.
Wenn das so ist – woran niemand zweifelt: Wovor haben wir dann eigentlich so
schreckliche Angst? Wenn über 90 Prozent all der vernichtenden Drogen, die
produziert werden, ungehindert zum Konsumenten gelangen: Warum dann die Panik
davor, dass es hundert Prozent werden könnten?“
Exakt. Die Konsumsituation würde sich, sofern überhaupt, nur
geringfügig verändern. Allerdings käme es zum gravierenden
Nebeneffekt, dass wir mit diesem teuren, nutzlosen und schädlichen Kasperletheater namens "war on drugs"
aufhören könnten. Ein Begriff, den Nixon geprägt hatte, ein Mann, der - vorsichtig formuliert - mit Vorurteilen zu kämpfen hatte: "...every one of the bastards that are out for legalizing marijuana is Jewish."
Fischer schließt mit der Frage: „Wie oft läuft ein halbwegs
vernünftiger Mensch mit dem Kopf gegen eine massive Wand, bevor er aufhört zu
sagen, es wäre besser, wenn sie nicht da wäre, und man müsse nur mehr Anlauf
nehmen?“
SPIEGEL - Größter Kokainfund aller Zeiten – ja, und? (2021)
abcnews - Tapes Reveal Nixon's Prejudices Again (2006)
Im Hamburger Hafen z.B. werden täglich 10000 Container
verladen. Angenommen 1% davon enthält Illegales, also 100 Container. Der Zoll prüft
jeden Tag „mehrere“ von den 10000. Sagen wir mal „mehrere“ bedeutet 10
Container pro Tag. Nehmen wir zusätzlich an, der Zoll hat ein extrem gutes
Gespür für illegale Lieferungen und hat eine fantastische Trefferquote von 50%,
findet also fünf illegale Lieferungen am Tag. Das bedeutet erst einmal, dass 5% der
illegalen Ware nicht zum Endkunden gelangt, die Verantwortlichen sind damit
aber noch lange nicht gefasst und gehen weiter ihrem lukrativen Geschäft nach.
Und lukrativ muss es sein, sonst könnte es solche Ausfälle
nicht verkraften.
Von diesem „Schlag gegen die Kriminalität“ bemerkt der
Endkunde nichts oder muss schlimmstenfalls etwas länger als üblich auf seine
Lieferung warten. Ihn zu schützen ist ja aber eigentlich der Sinn der ganzen
Übung. Wenn also das Ziel war den Konsumenten vor seinem eigenen Konsum zu
schützen, dann ist das Resultat der ganzen Aktion: setzen, sechs
Der Krieg versucht mit jährlichen Milliardenkosten das
Angebot zu unterbinden, um so für die drogenfreie Welt zu sorgen. Das ist bei
Lichte betrachtet sehr kurz gesprungen und für jeden sichtbar -sofern er oder sie mal hinschauen würde- erfolg- und
wirkungslos. Wir schrauben nur an der Schraube des Angebots, haben aber
Maßnahmen auf der Nachfrageseite überhaupt nicht auf dem Schirm.
Wenn man die Vorstellung einer drogenfreien Welt mal als
Illusion begriffen hat, könnte man mit dem faktischen Vorhandensein der weltweiten Nachfrage auch einfach mal sachlich umgehen und entsprechende Maßnahmen
ableiten, anstatt jahrzehntelang so zu tun als würde man mit dem Krieg
irgendetwas bewirken.
Die potentiellen Milliardenerlöse aus diesem Markt hängen
wie überreife Früchte an Bäumen, die kniehoch eingezäunt sind und der Staat
sagt: „Bitte seid so nett und pflückt sie nicht.“ Solange es Menschen gibt, wird es unter ihnen immer welche geben, die nicht widerstehen können.
Die Prohibition
erzeugt beim Händler die Gefahr erwischt zu werden, es müssen u.a. Schmiergelder gezahlt werden. Diese Mehrkosten werden durch einen im Verhältnis zum Produktpreis überproportionalen
Risikoaufschlag kompensiert. Für Hanf, eine schnell wachsende Pflanze, die in fast allen Regionen der Erde vorkommt (/-en könnte) zahlt der Endkunde bis zu 1/3 des Goldpreises. Auf dem Weg vom Anbauland bis zum Endkunden
verhundertfacht sich der Preis des Kokains - und er wird bezahlt. Die preisunelastische Nachfrage nach illegalen
Substanzen hält sich trotz der künstlichen Verteuerung stabil. Es
wurde und wird weltweit konsumiert, der Preis spielt eine untergeordnete Rolle.
Die Gewinnspanne (und damit
Anreize mitzumachen) wird also erst durch die Prohibition kultiviert, sie ist die
Ursache für hohe Margen. Diese sind astronomisch – und „steuerfrei“! Gleichzeitig sind die Haftstrafen in Deutschland bei guter Führung
etc. teilweise überraschend mild. Das ist doch fast schon eine herzliche
Einladung an Kriminelle in diesem Business aktiv zu werden: absurde Margen,
Steuersatz 0%, vertretbares Risiko erwischt zu werden (da mit viel Geld aus dem Hintergrund agierend) und im worst case milde
Haftstrafen. Es sollte uns zu denken geben, dass heutige Schwarzmarktakteure Prohibitionsbefürworter sind - denn sie macht sie reich. Viele Probleme, die wir den Drogen zuschreiben, entstehen durch den Krieg gegen die Drogen.
Gleichzeitig ist die Lebenszeitprävalenz des Cannabiskonsums
in Deutschland in den 20 Jahren ab 1995 um den Faktor 2,5 gewachsen. In Berlin
haben sich die Rückstände von Kokain im Abwasser innerhalb von drei Jahren
verdoppelt. Wir kommen dem Ziel also nicht gerade näher.
Viele der Menschen, die zu diesen Abwasserwerten beitragen,
spielen ein jahrelanges Versteckspiel, belügen Freunde und Bekannte, weil sie
um ihren Arbeitsplatz oder ihre gesellschaftliche Stellung besorgt sind. Aus
Angst vor Stigmatisierung/Strafverfolgung bitten sie nicht um die vielleicht dringend
notwendige Hilfe.
Diesen allgemeinen Trend, die Entwicklung zum Mehrkonsum will niemand gutheißen,
aber er zeigt doch deutlich, dass der Krieg seine Wirkung ganz klar verfehlt.
Wenn eine so drastische, folgenschwere und teure Maßnahme über einen so langen
Zeitraum messbar erfolglos bleibt, sollten man m.E. zumindest anfangen darüber
nachzudenken, ob es nicht endlich Zeit für einen neuen Ansatz ist.
BZGA - DIE DROGENAFFINITÄT JUGENDLICHER IN DER BRD 2019
Kurgesagt - Der Krieg gegen Drogen ist gescheitert! (2018)
SPIEGEL - Comeback des Kokains (2019)
DHV - DIE KOSTEN DER CANNABIS-PROHIBITION IN DEUTSCHLAND (2018)
Die Tatsache, dass Substanz A legal und B illegal ist, ist rein politischer Natur. Hier geht es nur augenscheinlich darum den Bürger zu schützen. Unser Umgang mit verschiedenen Substanzen trägt reichlich politisch-kulturellen Ballast und könnte irrationaler nicht sein. Substanz A, obwohl sehr schädlich für den Konsumenten und die Gesellschaft ist legal und allgemein akzeptiert, generiert willkommene Steuereinnahmen, darf gar in den Medien beworben werden, um eine Nachfrage zu erzeugen, die sonst so nicht existierte. Substanz B hingegen - obwohl unschädlich bzw. therapeutisch hochinteressant - ist illegal, die Forschung wird unterbunden und ihre Nutzer werden stigmatisiert und strafverfolgt.
Wie konnte es dazu kommen?
Ursprung der heutigen Politik
Es fällt auf, dass eine substanzbezogene politische Haltung oft als Vehikel zur Diskriminierung von bestimmten Gruppen bzw. aus rein wirtschaftlichen Interessen benutzt wird.
Nach 1850 sind z.B. viele Chinesen in die USA immigriert, um dort zu arbeiten. Sie waren z.B. im Bau des Schienennetzes tätig und galten als belastbare Arbeitskräfte, was sie in den Augen ihrer Gastgeber bald zur Arbeitsplatzkonkurrenz machte. In der Folge wurde diese Gruppe aufgrund ihres Opiumkonsums stigmatisiert und unterdrückt, während die Substanz selbst in den USA als Medizin beliebt und legal war. Das Konsumverhalten der chinesischen Einwanderer, was mit den Opiumkriegen erst forciert wurde, sollte nun als Grund für ihre Vertreibung dienen. 1875 erließ San Francisco eine Strafnorm gegen das Rauchopium der Chinesen.
In Deutschland wurden erste Anstrengungen 1872 durch Kaiser Wilhelm I. unternommen. Er sorgte dafür, dass „Droguen“ ausschließlich in Apotheken
verkauft werden sollen. Zu dieser Zeit wurde Cannabis z.B. als Schmerzmittel
eingesetzt und spielte für den Freizeitkonsum keine wichtige Rolle.
Bis dahin wurde Cannabis seit tausenden von Jahren von den
Menschen genutzt. Sie ist eine der ältesten Nutzpflanzen, die wir kennen und
ich bin mir sicher, dass sie zu diesem Status zurückfinden wird. Warum? Weil ich überzeugt bin, dass sich Fakten langfristig gegenüber Ideologien durchsetzen. Sie diente als
Heilpflanze, als nahrhaftes Nahrungsmittel, als Rohstofflieferant für extrem
belastbare Fasern für Seile, Dicht- und Dämmmaterial, Formpressteile für
z.B. Fahrzeuge, Kleidung, Papier, … Die Pflanze ist ein wahres Multitalent und ihr Einsatz
wäre besonders heute im Sinne des nachhaltigen Wirtschaftens geeignet, da es
eine relativ anspruchslose Pflanze ist, die schnell wächst, wenig Dünger
braucht und ohne Herbizide auskommt.
Spektrum - Hanf - mehr als nur eine Droge (2016)
1912 findet die erste internationale Opiumkonferenz statt,
die ursprünglich das Ziel verfolgt den Opiumkonsum einzudämmen. Die Illusion
einer drogenfreien Welt wird geboren. Es wird in dem Rahmen erstmals auch über Cannabis
diskutiert. Man ist sich einig, dass es zu wenige Informationen und Statistiken
über den Gebrauch von Cannabis vorliegen. In der Abschlusserklärung der
Konferenz soll der indische Hanf dennoch durch „inländische Gesetzgebung oder
ein internationales Abkommen“ eingedämmt werden. Diese Erklärung bleibt in
Deutschland erstmal folgenlos.
Auf der nächsten Konferenz 1924/1925 wird ein gesonderter
Ausschuss für Cannabis gebildet, der über ein internationales Cannabis-Verbot
abstimmt. Deutschland ist dort nicht vertreten. 1925 wird Cannabis in das „Internationale
Abkommen über die Betäubungsmittel“ aufgenommen. Jeglicher Umgang der genannten
Stoffe soll „ausschließlich auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke“
beschränkt werden. Erst vier Jahre später, 1929, wird Hanf im Vorgänger des
heutigen BtmG, welches 1971 in Kraft tritt, aufgenommen. Der Bezug in Apotheken
war weiterhin möglich.
Handelsblatt - So kam es zum Cannabis-Verbot in Deutschland (2018)
Welche Rolle spielte die Wissenschaft bei der Bestimmung der Grenze zwischen legal und illegal?
😂 ...sollte ein Witz sein. Sehr gute Frage. Ich kann beim besten Willen keine Systematik erkennen. Aus meiner Sicht ging es vorwiegend darum, wer die typischen Konsumenten waren bzw. was ideologisch mit der Substanz assoziiert wurde. Zum Beispiel: bist Du zufällig Einwanderer, bist in die Ungunst Deiner "Gastgeber" gefallen (weil Du vielleicht Jazz-Musiker bist) und konsumierst gerne Substanz B? Dann ist Substanz B eben von nun illegal, was Dich als Konsument fortan kriminalisiert. Im Vergleich wäre eine Entscheidungsfindung wissenschaftlich gewesen, bei der man mit Würfeln, auf deren Seiten kleine Hanfblättchen, Mohnblumen, Hopfen etc. abgebildet sind, etwas gekniffelt hätte.
Unser BtMG zählt LSD neben Cannabis, Psilocybin und Heroin zu
den nicht verkehrsfähigen Betäubungsmitteln. Hier wird schon sichtbar, dass viele
Substanzen bunt gemischt in einen Topf geworfen werden. Mit Wissenschaft hat das wenig zu tun. Das wurde rein politisch entschieden.
In einer Untersuchung in UK im Jahr 2010 wurden die Schäden verschiedener Substanzen von
Experten bewertet. Hierbei wurde unterschieden zwischen Schäden am
Nutzer selbst (x-Achse), z.B. körperliche, psychische Folgen und Schäden
für die Gesellschaft (y-Achse), z.B. Verletzungen, Gewalt, zerstörte
soziale Strukturen und ökonomische Kosten. Diese Studie wurde 2015 nochmals durch 40 Experten auf EU-Ebene durchgeführt und zeigte beim Gesamtschaden der Substanzen ein fast identisches Ergebnis (lediglich im Mittelfeld waren zwei Substanzen vertauscht).
Erwarten sollte man doch eigentlich,
dass sich die legalen Substanzen tendenziell links unten (weniger
gefährlich) und die illegalen eher rechts oben (gefährlich) befinden,
was unsere aktuelle Substanzklassifizierung unterstreichen würde.
Tatsächlich
liegen z.B. die Halluzinogene Psilocybin „Mushrooms“ und LSD sehr weit
links unten. Heroin, Crack liegen zusammen mit
Alkohol deutlich rechts oben, wobei letzterer mit beachtlichem Abstand
den größten gesellschaftlichen Schaden aller hier aufgeführten
Substanzen
verursacht.
Nutt et al - Drug harms in the UK: A multi-criterion decision analysis
National Library of Medicine - European rating of drug harms (2015)
Das liegt natürlich auch darin begründet, dass Alkoholkonsum sehr weit verbreitet ist. Es erklärt aber nicht, warum wir einen so entspannten Umgang mit ihm pflegen und bei Halluzinogenen in Schockstarre verfallen.
In den USA sieht es ähnlich aus: hier werden Heroin,
Cannabis, LSD und andere als schedule 1 Substanzen, der kritischsten Gruppe,
definiert. Diese haben laut DEA, der Drug Enforcement Administration ein hohes Missbrauchs-/Abhängigkeitspotential
und keinen medizinischen Nutzen. Im Fall der Psychedelika, wie z.B. LSD ist
beides unwahr. Sie sind nicht suchterzeugend und haben gleichzeitig großes
medizinisches Potential. Auch Cannabis kann in verschiedensten Bereichen als Medizin angewendet werden. Hier hat spätestens seit dem "Cannabis-Gesetz" von 2017 ein Umdenken begonnen.
Ende letzten Jahres hat sich eine UN-Kommission dafür ausgesprochen Cannabis aus dieser Klassifizierung rauszunehmen, sprich: einen Unterschied zwischen Cannabis und Heroin zu machen und folgte damit der Einschätzung der WHO.
Kokain und Methamphetamin z.B. fallen unter schedule II und haben
damit nach Ansicht der DEA ein geringeres Missbrauchspotential bzw. einen
größeren medizinischen Nutzen als Cannabis. Interessanterweise tauchen Alkohol und Tabak in keiner der
fünf Kategorien auf.
SZ - "LSD ist aus wissenschaftlicher Sicht ein Glücksfall" (2018)
nytimes - U.N. Reclassifies Cannabis as a Less Dangerous Drug (2020)
Lehren aus der Alkoholprohibition (spoiler: keine)
Die Alkoholprohibition in den USA ist ein schönes Beispiel
dafür, dass die Unterbindung des Angebots nicht funktioniert, solange eine Nachfrage vorhanden ist. Die Nachfrage ist so alt wie der Mensch selbst
und solange das so ist, wird kein noch so drastisches Verbot zum Ziel führen.
Während der Prohibition wurde 14 Jahre lang versucht
Herstellung, Transport und Verkauf von Alkohol zu verbieten.
Was war die Folge? Die etablierten Anbieter zogen sich aus
dem Geschäft und die kriminellen übernahmen es. Der Effekt des Verbots auf der
Angebotsseite: 0. Der Konsum von Alkohol ist kurzzeitig zurückgegangen, um
danach über das ursprüngliche Niveau anzusteigen. Was ebenso gestiegen ist, ist
der Preis für Alkohol, sowie Kriminalität, Schmuggel, Korruption und in der
Folge die Größe des Polizeiapparats.
Man war sich in Öffentlichkeit und Politik bald einig, dass
die Prohibition nichts erreicht bzw. negative Effekte erzeugt hatte, sodass sie
Ende 1933 wieder abgeschafft wurde. Nicht zuletzt, weil Steuereinnahmen aus dem
Alkoholverkauf fehlten. Ironischerweise war es für den US-Bürger nach der
Prohibition schwieriger an Alkohol zu kommen, als währenddessen. Bis heute kommen amerikanische Jugendliche viel einfacher an Cannabis (unreguliert), als an Alkohol (reguliert). Diesen Effekt einer Regulierung
könnten auch wir uns im Sinne des Jungendschutzes zunutze machen, nicht?
Die Amerikaner hätten aus der komplett gescheiterten Alkoholprohibition etwas
lernen können. Was haben sie aber anstattdessen gemacht? Sie , also ein paar "Spezialisten"
haben sich unter Angabe verlogener und rassistischer Argumente einfach
einen neuen "Feind" gesucht. Die Heerscharen von Polizisten, die gestern
noch die Alkoholprohibition durchsetzen sollten, hatten heute keine
Aufgabe
mehr. Also müssen neue "Verbrecher" geschaffen werden, die man dann folglich wegsperren darf und muss - weil: sind ja Verbrecher.
Stuttgarter Nachrichten - Prohibition – Amerikas große Trockenzeit (2019)
Stuttgarter Zeitung - Warum die Prohibition in USA nicht funktionierte (2020)
Wie muss man sich die weitere Entwicklung nach Ende der Alkoholprohibition vorstellen? Beispiel:
"Gut, die Alkoholprohibition ist echt nach hinten losgegangen. Das war also gar nichts. Hat einen Haufen Geld gekostet und nichts verändert. Hat jemand eine Idee, wie wir weiterhin bestimmte Menschen kriminalisieren können?"
"Lasst es uns doch einfach mal mit anderen Substanzen und einer noch militanteren Prohibition probieren!"
"Klingt super, machen wir!"
So haben einige US-Staaten in den 30er Jahren damit begonnen Cannabis zu verbannen. Die US-Bundesregierung war zunächst noch zögerlich, weil der therapeutische Nutzen der Pflanze noch untersucht wurde und die Industrie von hanfbasierten Produkten wie Fasern, Samen und Öl profitierte. Die Besteuerung der Pflanze 1937 im Marihuana Tax Act sollte prinzipiell nur den Konsum als „recreational drug“ eindämmen (bzw. inoffiziell Minderheiten kriminalisieren). Tatsächlich war auch der Industriehanf betroffen, dessen Import bzw. Herstellung so immer weniger profitabel wurde. Ebenso verschwand die medizinische Forschung weitgehend. Wir könnten heute auf die Ergebnisse aus 80 Jahren Forschung zurückblicken.
Das Cannabisverbot und die in den USA (in den Staaten, in denen
es noch nicht entkriminalisiert wurde) teils drakonischen Strafen haben ebenso wie zuvor beim Alkohol keine Reduzierung der Nachfrage zur Folge. Die Menschen konsumieren weiter, nur mit
dem Unterschied, dass das Angebot unreguliert von kriminellen Gruppierungen
bereitgestellt wird und der Konsument meist gezwungen wird mit diesen zu
interagieren.
Jetzt mag man einwenden, dass niemand gezwungen wird zu konsumieren und mit Kriminellen Geschäfte zu machen. Natürlich wird niemand gezwungen, aber die Menschheitsgeschichte wie auch die aktuelle Situation zeigen, dass es weltumspannend sehr viele Menschen gibt, die das gerne tun möchten und sich von einem Verbot oder im Extremfall der Todesstrafe nicht abhalten lassen. Würde man in Deutschland aufhören zu trinken, wenn es ab morgen verboten wäre?
Diesen wesentlichen Punkt als Tatsache zu akzeptieren, müsste m.E. in logischer Folge zur Einsicht führen, dass Prohibition keine Lösung ist, um die Menschen vor sich selbst zu schützen. Aber ehrlich gesagt geht es darum auch gar nicht. Kein Prohibiteur hat vor den Bürger zu schützen. Und vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum wir bis heute an diesem Verbot festhalten.
In den USA sind Gefängnisse teilweise privat geführt, darunter sind börsennotierte Unternehmen. Dort existiert eine in den letzten Jahren stark gewachsene Gefängnisindustrie, die
Rahmenverträge mit dem Staat abschließt. Der Staat kauft die Dienstleistung
„Wegsperren“. Es wird also profitorientiert dafür gesorgt, dass die laufenden
Kosten gering, die Anzahl der „Gäste“ aber möglichst hoch ist. Ein Gericht hat Kalifornien in 2010 dazu verpflichtet die Auslastung der Gefängnisse auf 137,5% der geplanten Auslastung zu senken, weil man schon bei 200% angekommen war.
So passt es gut,
dass eine weit verbreitete Handlung (im Jahr 2014 waren es in den USA 32 Millionen Cannabis-Nutzer) in der Vergangenheit völlig willkürlich als Straftat
deklariert wurde, um den so generierten „Verbrecher“ folglich ins Gefängnis stecken zu können.
Hier wird nochmal deutlich: niemand will dem Bürger helfen oder ihn schützen.
Es braucht einfach nur ein Argument ihn wegsperren zu können, was in den USA
offenbar auch den Aktionären zugute kommt.
Ärztezeitung - Immer mehr US-Amerikaner rauchen Gras (2016)
Tagesschau - Gefängnis-Industrie fürchtet Bidens Sieg (2020)
Süddeutsche - Der Krieg gegen die Drogen ist gescheitert (2013)
Nachdem man im 18. Jahrhundert zu Zeiten von Hanfknappheit als Landwirt in Amerika dafür belangt werden konnte, es nicht anzubauen, merkte die Regierung bald nach der Verabschiedung des Marihuana Tax Act, dass sie nun in die andere Richtung über’s Ziel
hinausgeschossen war. 1942 wurde die Meinung bzgl. der Pflanze nochmal
revidiert: weil im Krieg Hanf als Rohstoff fehlte, wurden amerikanische
Landwirte durch das Landwirtschaftsministerium sogar aufgerufen verstärkt in
Hanf zu gehen. Nach Ende des Krieges wurde er dann erneut verbannt. Klingt wie ein Witz, oder?
toolsofcontrol - A Brief History of the Criminalization of Cannabis in the United States (2017)
U.S. Department of Agriculture - Hemp for Victory (1942)
Harry Anslinger, Leiter des Federal Bureau of Narcotics ist der Mann, der die Cannabisprohibition fast im Alleingang aus der Taufe gehoben hat. Aus seinem persönlichen Problem mit Minderheiten ("Reefer makes darkies think they're as good as white men.") wurde durch seine Propaganda schlussendlich ein Gesetz, das bis heute Millionen von Gefängnis-Mannjahren zur Folge hatte.
Er und sein ähnlich motivierter Mitstreiter William Randolph
Hearst, seines Zeichens Zeitungsmogul, unternahmen eine Hetzkampagne gegen Hanf.
Hearst, Sympathisant der Nationalsozialisten, hatte mit seinen Zeitungen
Einfluss auf fast 1/3 der amerikanischen Leser und nutzte dieses Werkzeug für
Propaganda und Falschmeldungen, um gezielt Stimmung gegen die „gefährlichste Droge
seit Anbeginn der Menschheit“ zu machen. Seine Zeitungen waren wahrscheinlich der Prototyp der Sensationsnachrichten und prägten den Begriff "Yellow Press".
Der Begriff „hemp“ wurde durch
„marijuana“ ersetzt, um die den Amerikanern durchaus bekannten Kulturpflanze Hanf in etwas Fremdes zu verwandeln. Viele Amerikaner konnten keine
Verbindung zwischen den beiden Begriffen herstellen. So wurde über die
Sensationspresse das Bild des kiffenden, dunkelhäutigen Kriminellen erzeugt,
das bis heute zwar in den Köpfen spukt, aber fern der Realität liegt. Man brauchte nur ein Werkzeug, um gegen Minderheiten vorgehen
zu können. Cannabis schien hierfür das geeignete Mittel zu sein. Diese Medien behaupteten also u.a. die Afroamerikaner und Mexikaner
würden im Cannabisrausch weiße Frauen vergewaltigen und generierte damit eine
willkommene Rechtfertigung gegen diese Minderheiten vorzugehen.
youtube - Reefer Madness (1936)
Als Anslinger zum Thema Cannabis-Besteuerung im Kongress angehört wurde, waren seine "Beweismittel" Zeitungsausschnitte, natürlich aus dem Hause Hearst. Womöglich noch aus seiner eigenen Feder. Obwohl ihm die American Medical Association genau das vorwarf, wurde sein Antrag durchgewinkt. Das ist die "wissenschaftliche" Basis, die Wurzel unseres heute gültigen BtMG.
David E. Newton - Marijuana (2013)
House of Representatives - Mail Order Drug Paraphernalia Control Act (1986)
Das Werkzeug zur Diskriminierung von Minderheiten wird bis heute genutzt: es ist zwar so, dass der Konsum in verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den USA in etwa gleichmäßig verteilt ist. Ein Afroamerikaner hat jedoch eine vierfach größere Chance
wegen eines Drogendelikts im Gefängnis zu landen. 2018 bildeten Afroamerikaner
12% der Bevölkerung in den Staaten, sind in den Gefängnissen aber zu 33%
vertreten. Zufall?
Plus, das „land of the free“ stellt 5% der weltweiten
Bevölkerung, aber 25% der weltweit inhaftierten Menschen. Wenn man also das
Ziel verfolgt möglichst viele Menschen ins Gefängnis zu stecken, bietet sich u.a.
das „Teufelskraut“ hervorragend an.
Genau aus diesem Grund, dem strukturellen Rassismus, ist New York als 15. US-Bundesstaat aktuell drauf
und dran Cannabis für den Freizeitgebrauch zu legalisieren. Meinen
Glückwunsch! Es wird in Zukunft mit jährlichen Steuermehreinnahmen von 350 Mio. Dollar
gerechnet. Sind wir momentan nicht auch etwas klamm? 😅
Dazu kamen wirtschaftliche Aspekte, die im Kampf gegen Hanf eine Rolle spielten. Verfahren zur Papierherstellung aus Holz wurden erst Ende des 19. Jahrhunderts etabliert, waren günstiger (vermutlich, weil der Wald „gratis“ zur Rodung bereitstand) und verdrängten die Papierherstellung aus Hanf. Das ist heute ökologischer und ökonomischer Unfug. Aus Hanf, einem schnellwachsenden Rohstoff kann langfristig mindestens 4x mehr Papier hergestellt werden, als aus einem Waldstück vergleichbarer Größe. Hearst, Wald- und Papierfabrikbesitzer, hatte vermutlich ein Interesse diese Entwicklung in Richtung Holz zu untermauern bzw. die Hanfpapier-Konkurrenz gänzlich auszuschalten.
Ähnlich waren auch große Unternehmen, wie z.B. DuPont
orientiert: sie hatten 1937 die erste, synthetisch hergestellte Faser, „Nylon“
patentieren lassen. Es ist anzunehmen, dass auch sie in der Hanffaser eine Konkurrenz
sahen, die es kleinzuhalten galt. Nicht zuletzt weil Produkte von DuPont zur
Holzpapierherstellung (zum chemischen Herauslösen des Lignins aus der
Holzfaser) vertrieben wurden. Interessantes Detail bei DuPont: der wichtigste
Geldgeber, Andrew Mellon, der zuvor Finanzminister war, etablierte das Federal
Bureau of Narcotics als eigene Behörde (Vorgänger der heutigen DEA) und sorgte
dafür, dass sein Schwiegerneffe, Anslinger, dessen Leitung übernimmt.
Genau
jener wurde dann 1947 in die UN-Drogenkommission berufen, wo er sein Weltbild
international verbreiten konnte. Die „Single Convention on Narcotic Drugs” von
1961 ist bis heute die Basis der weltweiten Drogengesetzgebung, was auch uns
seit der deutschen Ratifizierung 1973 betrifft.
Nach seinem Rücktritt sagte Anslinger, dass es ihm mit seiner Drogenpolitik nie um den Gesundheitsschutz der Bevölkerung ging. Er wollte mit diesem Mittel die Autorität des Staates stärken.
tagesschau - New York will Marihuana legalisieren (2021)
Böllinger - Die Obsoletheit des Cannabisverbots (2018)
Quarks - Die Geschichte des Verbots von Cannabis (2019)
Zwahlen et al. - Hinter Hanfverbot stehen Wirtschaftsinteressen (2011)
Zeit - Milliarden für einen nutzlosen Krieg (2016)
dw - Historische Ungerechtigkeit: Schwarze Häftlinge in den USA (2020)
Hanfkultur - Die Geschichte des Harry Jacob Anslinger (2006)
Wikipedia - William Randolph Hearst
Die „Nicht-Drogen“: Alkohol und Nikotin
In Deutschland wird zu fast jedem feierlichen Anlass Alkohol gereicht. Seien es Stammtische, Pokerrunden, Geburtstage, Jubiläen, Hochzeiten, Examensfeiern, Richtfeste, Weihnachten, Silvester, Konzerte, Straßenfeste, Vertragsabschlüsse, ... you name it! Hier wird eingeschenkt, da wird angestoßen. Feiern und trinken gehören in unserer Kultur fast untrennbar zusammen. Wenn ein Jugendlicher alkoholvergiftet in seinem eigenen Erbrochenen liegt, wird gelächelt: "der muss sich seine Hörner abstoßen". Wenn der gleiche Jugendliche in seinem Freundeskreis einen Joint kreisen lässt, wird ein Strafverfahren eingeleitet. Wieso halten wir an dieser unsachlichen Differenzierung verschiedener Substanzen fest? Wie kann eine aufgeklärte Gesellschaft im 21. Jahrhundert so unterwegs sein?
Alkohol, eine der schädlichsten Drogen sowohl für den Konsumenten wie auch sein Umfeld (s. Diagramm), ist trotz gesonderter Besteuerung für sehr wenig Geld, nahezu unbegrenzt in jedem Supermarkt zu haben. Sobald man das zarte Alter von 16 Jahren erreicht hat, darf man offiziell einsteigen. Tatsächlich geschieht der Einstieg jedoch oft früher, weil Papa mal eine Pulle abgibt und nachsichtig lächelt, wenn der bittere Geschmack des Hopfens das Gesicht des Sohnemanns verzerrt. Gleichzeitig kann sich der suchtkranke, still nach Hilfe rufende Alkoholiker, der kaum geradeaus laufen kann, vormittags um 9 zwei Flaschen Korn kaufen, ohne dass jemand eine Augenbraue heben würde.
Bei uns in Deutschland wird immer von Alkohol und Drogen
gesprochen. Wie kommt es, dass einzelne Substanzen, diesen Sonderstatus haben?
Auf welcher Basis wird hier differenziert?
Die unreflektierten Menschen machen es sich folglich einfach: illegale
Drogen = gefährlich, legale Drogen = harmlos. "Also komm, noch eine Runde! Es
ist ja legal und schau': die gutaussehenden und glücklich wirkenden Menschen in
der Werbung haben auch alle ein Bier in der Hand! Wie könnte das gefährlich
sein?"
Alkohol ist in unserer Gesellschaft so akzeptiert, allgegenwärtig und gleichzeitig gesundheitlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich so schädlich, dass man sich schon fragen muss, worum es dem Gesetzgeber eigentlich geht. Der Gesundheitsschutz der Bürger scheint auch hier nicht die zentrale Motivation zu sein. Dafür sterben durch Alkohol jedes Jahr einfach zu viele Menschen. Das weiß auch jeder von uns. Aber es wird in der Diskussion einfach ausgeblendet.
Frug man unsere ehemalige Drogenbeauftragte, Marlene Mortler, warum Alkohol legal und Cannabis verboten ist, so kam als Antwort: "Weil Cannabis eine illegale Droge ist. Punkt." Das spiegelt das Niveau, auf dem in Deutschland über das Thema diskutiert wird, sehr gut wider.
Wir feiern in Deutschland weltweit beliebte Volksfeste,
deren zentraler Dreh- und Angelpunkt der Alkoholkonsum ist. Da wird nicht etwa
festbegleitend ausgeschenkt. Nein, das ist der primäre Grund dafür sich dort
aufzuhalten. Wer schon einmal einen Abend nüchtern im Bierzelt verbracht hat,
der kann gut vom Glauben an die Menschheit abfallen. Nüchtern betrachtet ergibt
das alles überhaupt keinen Sinn, ist aber irgendwie „Teil unserer Kultur“.
Gerne lassen sich Politiker in Feierlaune und halbvollem Maßkrug ablichten, womit
sich ihre Nähe zum Volk unterstreichen lässt.
„Teil unserer Kultur“ reicht vielen schon als Begründung für
die Aufrechterhaltung des Status quo. Wir sind eben ein Volk von Trinkern. Alle
damit einhergehenden Gefahren und wirtschaftliche Kosten werden in Kauf genommen.
Das alleine ist aber nicht das Hauptproblem. Ich will niemandem die Substanz seiner Wahl absprechen. Es gab Zeiten als unter den Optionen Bier oder Wasser das Bier die weniger schädliche Wahl war. Der Alkohol sorgte für eine geringere Keimbelastung, was Bier auch vergleichsweise haltbar machte. Mit ähnlichem Energiegehalt wie Cola ist es auch nahrhaft und wird nicht umsonst auch flüssiges Brot genannt. So war es tatsächlich fester Bestandteil der täglichen Ernährung und steht vielen Menschen bis heute sehr nah.
Wirklich
verlogen wird die ganze Debatte jedoch erst, wenn Substanz A gesellschaftlich exzessiv angepriesen,
gefeiert und in gesundheitsschädlichem Ausmaß konsumiert wird und gleichzeitig
Gelegenheitskonsumenten der Substanz B diskriminiert und kriminalisiert werden.
Wir sind ein Hochkonsumland: Platz drei im europäischen Vergleich 2018, fast 15 Liter reinen Alkohols trank der Durchschnittsdeutsche (>15 Jahre) in 2015. Jedes Jahr stirbt aufgrund dessen bald eine ganze Großstadt (74000 Menschen) weg, die alkoholinduzierten Unfälle nicht eingeschlossen. Jedes sechste Kind wird von mindestens einem alkoholkranken Elternteil großgezogen. Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkohol betragen knapp 40 Milliarden Euro pro Jahr.
Kenn dein limit - Alkohol in Zahlen
SPIEGEL - Jeder Sechste in Deutschland trinkt zu viel Alkohol (2018)
Statista - Pro-Kopf-Konsum von reinem Alkohol in ausgewählten Ländern Europas im Jahr 2018
Bei Tabak sieht es ganz ähnlich aus. Wenn jemand alleine auf
der Parkbank sitzend eine Zigarette raucht, würde sich niemand daran stören,
„Ist ja seine Gesundheit.“ Ist die Zigarette aber etwas länger und konisch,
sind wir entsetzt über den Verfall der Sitten und den galoppierenden Anstieg
der Kriminalität. Die hinter den Bäumen lauernde Streife würde beim Fund
einiger Zehntelgramm getrockneter Pflanzenteile ein Verfahren einleiten.
Habt ihr mal im Stuttgarter Schlosspark erlebt wie am hellen
Nachmittag aus dem nichts Polizeisprinter gleichzeitig aus allen
Himmelsrichtungen kommen und jede/n kontrollieren (mit Gummihandschuhen),
die/der die "falsche" Hautfarbe hat? Ich habe mit einem Freund mitten im
Zentrum des Geschehens gepicknickt und wir wurden nicht mal angesprochen,
geschweige denn kontrolliert.
Laut BKA wurden in Deutschland in 2019 über 225000
Strafverfahren (fast alle zwei Minuten von Neujahr bis Silvester) wegen Cannabis eingeleitet, 83% davon betrafen einfache
Konsumenten. Man kann sich vorstellen, was das kostet und was in dieser Zeit hätte sinnvoll getan werden können.
Durch Tabakkonsum sterben in Deutschland weitere >100000
Menschen jährlich. Das Bundesgesundheitsministerium behauptet zwar die
"Verringerung des Tabakkonsums...sind...vordringliche gesundheitspolitische
Ziele", doch das Tabakwerbeverbot wird in Deutschland als dem letzten Land
in der EU (!) erst ab diesem Jahr stufenweise eingeführt. Ich meine, wem genau nützt Tabakwerbung? Welcher Bürger würde dafür kämpfen sie beizubehalten?
Einerseits werden Menschen durch die staatlich abgesegnete
Werbung motiviert sich weiterhin massiven Schaden zuzufügen und gleichzeitig
werden Menschen kriminalisiert, die z.B. eine Hanfpflanze im Garten stehen
haben. Diese Pflanze, Teil der Natur ist illegal. Lasst euch das mal auf der Zunge zergehen,
sprecht diesen Satz mal laut aus. Wenn jemand Samen in meinen Garten wirft, die eine Pflanze hervorbringen, muss ich mich im Zweifel vor Gericht verantworten.
Damit kommen wir wieder zu den oben angesprochenen Partikularinteressen: weil in den 30er-Jahren in den USA ein paar Menschen ein Problem mit Immigranten hatten, müssen sich im Jahr 2021 Millionen Deutsche ernsthafte Sorgen um ihren Führerschein machen. Der ist nämlich in Gefahr, wenn man mit Cannabis erwischt wird. Auch dann, wenn man zum gegebenen Zeitpunkt nüchtern ist und lediglich eine kleine Menge bei sich hat. Auch dann, wenn man nichts bei sich hat und vor mehr als einer Woche zuletzt konsumiert hat. Auch dann, wenn man überhaupt nicht am Straßenverkehr teilgenommen hat. Aber die Kinder mit 0,5 Promille in den Kindergarten fahren ist ok.
Warum ist diese Pflanze denn eigentlich illegal trotz all ihrer
Vorzüge als Nutz- und Heilpflanze? Weil sie THC enthält, was eine gewisse
pharmakologische Wirkung auf uns hat, so wie viele andere Stoffe auch. Irgendjemand hat mal entschieden, dass das schlecht und
illegal ist. Sie also im Garten stehen zu haben - selbst dann, wenn man sie nur
gerne anschaut und gießt – ist strafbar.
Mittlerweile sickert langsam die Erkenntnis durch, dass sie medizinischen Nutzen hat. Die Menschen, die sich selbst therapieren, machen sich aber strafbar. Auch wenn es ihr Arzt gutheißt, muss er wegschauen. Erst seit dem Cannabis-Gesetz von 2017 gibt es die Pflanze bei uns in Deutschland offiziell als Medizin für schwerwiegend erkrankte Menschen - allerdings frühestens dann, wenn es sonst keine Therapiemöglichkeit gibt bzw. alle anderen Therapien nicht angeschlagen haben. Du musst also erst alle verfügbaren Pharmaprodukte durchprobiert haben, bevor du eine Pflanze verschrieben bekommst, von der du vielleicht bereits seit Jahren weißt, dass sie deine Leiden ausgezeichnet lindert. Freunde, das ist doch grotesk.
Ärzteblatt - Tabakatlas: 121 000 Rauchertote jährlich in Deutschland (2015)
Tagesschau - Tabakwerbung verschwindet fast ganz (2020)
Bundesministerium für Gesundheit - Rauchen (2021)
Cannabisfakten - Hoher Aufwand bei der Polizei für die Verfolgung einfacher Konsumenten (2020)
Niema Movassat - Cannabis und Führerschein: Die große Ungerechtigkeit #8 (2020)
Bundesärztekammer - FAQ Liste zum Einsatz von Cannabis
Wirtschaftliche Interessen
Zu den gefährlichsten und gleichzeitig am weitesten
verbreiteten Substanzen gehören Alkohol, Tabak und verschreibungspflichtige
Medikamente. Mit Hilfe derer verdienen Konzerne sehr viel
Geld. Diese sind legal. Hanf im Garten des Bürgers lässt bei keinem Konzern die
Gewinne sprudeln. Ob da etwa ein Zusammenhang besteht?
Stichwort Opioidkrise in den USA, wo jährlich zehntausende Menschen sterben, weil sie anfangs Schmerzen im Knie o.ä. hatten und zum Arzt gegangen sind. Diese stark suchterzeugenden Medikamente werden dort im TV beworben, „I got my life back“. Solange also eine Substanz dafür sorgt, dass genug Geld in die „richtigen“ Taschen fließt, ist diese offenbar verkehrsfähig.
Den Wirkstoff Psilocybin z.B. kann prinzipiell jeder auf einer Wiese in Form eines Pilzes pflücken oder zu Hause anbauen. Eine oder zwei Therapiesitzungen zeigen teilweise schon anhaltende Erfolge bei Menschen, die an behandlungsresistenter Depression leiden. Herkömmliche Antidepressiva, die teuer sind und oft mit starken Nebenwirkungen einhergehen, müssen hingegen permanent geschluckt werden. Daher wäre es schwierig mit Psilocybin Millionen zu verdienen. Folglich besteht überhaupt kein wirtschaftliches Interesse die Potentiale dieses Wirkstoffs zu heben, geschweige denn genauer zu untersuchen. Es gibt keinen Markt dafür. Mehr noch: diese im therapeutischen Sinne sehr aussichtsreiche Substanz ist illegal. Patienten haben somit überhaupt keine andere Wahl und werden auf Gedeih und Verderb dauerhaft mit Antidepressiva medikamentiert. Vermutlich wird ihnen auch gesagt, dass das leider die einzige Lösung sei. Das sorgt für einen konstanten Mittelzufluss bei den Pharmakonzernen. Warum sollten diese also nach margenschwachen Alternativen suchen?
Last Week Tonight - Opioids (2016)
Nature - Psilocybin for treatment-resistant depression: fMRI-measured brain mechanisms (2017)
Suchtgefahr
Menschen können
Suchterkrankungen entwickeln. Das ist ebenso
eine Tatsache, wie der Konsum an sich, unabhängig davon ob der Stoff
legal oder
illegal ist. Leider ist es ja so, dass die meisten Suchterkrankungen
durch legale Substanzen verursacht werden. Dauerhafter, hoher Konsum
kann zu einer Sucht mit all ihren
negativen Begleiterscheinungen führen. Sollte man dann mit dem
staatlichen
Eingriff nicht an diesem Punkt schützend ansetzen, anstatt einfach jeden
zu
kriminalisieren, der auch nur im Entferntesten mit einer Substanz zu
tun, sie z.B. im Garten stehen hat? Wenn Menschen psychisch gesund und
zufrieden sind gibt es in den meisten Fällen überhaupt nicht das
Bedürfnis auf
eine Art und Weise zu konsumieren, dass sich eine Sucht entwickeln kann.
Wer
ein sinnerfülltes Leben lebt, trinkt nicht jeden Tag drei Halbe
nach Feierabend. Oft ist es ein schlechtes Leben, Unzufriedenheit,
Perspektivlosigkeit oder erlebte Traumata, die zu einem riskanten Konsum
und
damit zu einer Sucht führen können. In vielen Fällen soll er helfen ein
irgendwie geartetes Loch zu stopfen.
Bundesgesundheitsministerium - Sucht und Drogen (2020)
Wenn also im Falle einer illegalen Substanz ein Teil der Akteure einen problematischen Konsum entwickelt, ist es dann eine sinnvolle Maßnahme alle Konsumenten zu kriminalisieren und zusammen mit den eigentlich hilfebedürftigen zu bestrafen? Ich will die Gefahren einer Sucht nicht kleinreden, aber strafrechtliche Maßnahmen des Staates und Gefängnisaufenthalte führen hier ganz offensichtlich nicht zum Ziel. Das wurde jetzt über Jahrzehnte fortwährend bewiesen und wir machen dennoch immer weiter.
Ich möchte hier nochmal klarstellen, dass ich den Konsum an sich nicht befürworte. Es ist im Zweifelsfall immer besser eine potentiell schädliche Substanz überhaupt nicht zu konsumieren, als sich beim (wie auch immer gearteten) Konsum einem Risiko auszusetzen. Auch die Jugend zu schützen macht natürlich uneingeschränkt Sinn und die Sorge aller Eltern, ihre Kinder könnten „abrutschen“ kann ich zu einhundert Prozent nachvollziehen. Der aktuelle staatliche Ansatz, die Strafverfolgung, verhindert aus genannten Gründen allerdings weder den Konsum, noch weniger schützt er die Jugend.
Ganz offensichtlich hat der übergroße Teil aller Nutzer von legalen wie illegalen Stoffen den Konsum im Griff. Andernfalls müssten bei diesen großen Mengen (wir reden ja von Tonnen, wenn wir die Spitze des Eisbergs meinen!), die summarisch konsumiert werden, Millionen Menschen im Würgegriff ihrer Suchterkrankung auf der Straße leben. Das ist aber für jeden nachvollziehbar nicht der Fall.
Am Beispiel Alkohol konsumierten 12,6% in Deutschland im Jahr 2018 in riskanter Weise. Die restlichen 87,4% konsumierten überhaupt nicht oder risikoarm. Bei den deutschen Cannabiskonsumenten zählen 7% zu den Intensivnutzern. Der Rest konsumiert gelegentlich oder regelmäßig. Es ist davon auszugehen, dass es sich mit der Mehrheit der Substanzen so oder ähnlich verhält. Jetzt würde ich behaupten, dass es sinnvoller ist, sich im Falle des Cannabis im präventiven Sinne (besonders) auf die 7% zu konzentrieren, anstatt 100% mit Strafverfolgung zu drohen. In diese 7% könnte der Staat die Drogenkrieg-Milliarden sinnvoll investieren, um das Problem präventiv an der Wurzel zu packen.Mit dem durch Wegfall des Drogenkriegs frei werdenden Geld könnten wir ausnahmslos allen Kindern eine fantastische Betreuung und Bildung angedeihen lassen, soziale Ungleichheit reduzieren, Persönlichkeit gezielt entwickeln, hilfebedürftige Menschen unterstützen, aufklären, ausbilden, betreuen. Das alles könnte präventiv geschehen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Ich bin mir sicher, dass wir auf diesem Pfad eine viel realistischere Chance hätten, die Bevölkerung physisch, wie psychisch gesund zu halten und infolge dessen auch weniger Suchtkranke zu beklagen hätten. Es wäre hilfreich den Konsum der Menschen als schlichte Tatsache und nicht als Verbrechen anzusehen. Durch einen offenen, weniger mittelalterlichen Umgang mit dem Thema, könnte jeder, der das Gefühl hat Hilfe zu benötigen mit offenen Karten spielen, ohne Repression oder Stigmatisierung befürchten zu müssen. Umgekehrt hätte auch das Umfeld eines Risikokonsumenten leichtes Spiel ein aufziehendes Problem zu erkennen und frühzeitig Hilfestellung anzubieten.
Gesellschaftliche Folgen
Wir haben so einen schmerzhaft unsachlichen Blick auf diese Sache,
dass man den Eindruck gewinnen könnte, wir lebten im Mittelalter. Der Vergleich mit der Inquisition ist vielleicht gar nicht so weit hergeholt: damals wie heute pickt man sich willkürlich eine Opfergruppe raus, behauptet sie seien verantwortlich für Probleme, für die sie nachweislich nicht verantwortlich sind, stellt sie folglich kalt und behauptet anschließend das habe der Gesamtsituation geholfen. Gut, das ist vielleicht ein Unterschied: was früher der Scheiterhaufen war, ist heute das Gefängnis. Prinzipiell sind aber beide Herangehensweisen mindestens extrem entwürdigend für den betroffenen Bürger.
Wäre es nicht sinnvoller diese Milliardenbeträge in die
Aufklärung, Suchtprävention und -therapie zu investieren, anstatt immer weiter
die Symptome zu bekämpfen, bei gleichzeitiger Bedienung der Ursache?
Es ist an der Zeit für einen Paradigmenwechsel, weg von der Ideologie hin zur Wissenschaft.
Warum können wir uns nicht von der Illusion einer
drogenfreien = problemfreien Welt lösen? Wie viele Menschen müssen noch
sterben, bevor wir einen neuen Ansatz auch nur mal erwägen? Ist eine
Regulierung nicht in jedem Fall erstrebenswerter als ein Krieg?
Gesamtheitlich bewegen wir uns ohnehin auf eine Regulierung zu. Vielerorts lassen sich Erfolge durch eine weniger
militante Herangehensweise beobachten: Uruguay, Kanada, Katalonien, Tschechien,
Niederlande, Schweiz, Portugal, viele US-Staaten, (bald: Israel, Luxemburg,
Mexico). Der allgemeine Trend ist klar, die Wissenschaft setzt sich durch. Den
letzten Betonköpfen aus der Politik gehen die Argumente zusehends aus.
Es ist kein Fall bekannt, wo ein
weniger militanter Regulierungsansatz zu den Schreckgespenstern, wie
moralischer Verfall, Drogenepidemien oder gesellschaftliche Zerrüttung geführt
hätte. Im Gegenteil sorgte eine Regulierung oft für positive Effekte, wie neue
Steuereinnahmen, geringere Kriminalität und damit einhergehend geringere
Kosten, rückläufiger Konsum unter Jugendlichen, neue Jobs, wirtschaftlicher Aufschwung.
Beispiel Portugal:
Seit 2001 ist der Besitz aller Substanzen bis zu einer großzügigen Obergrenze nur noch eine Ordnungswidrigkeit. Bis dahin hatten hilfebedürftige Suchtkranke auch hier häufig davon abgesehen sich
behandeln zu lassen aus Angst vor Strafverfolgung. Gleichzeitig sollten mit dem neuen Ansatz "harm reduction" Ressourcen freigeschaufelt werden, um den Hilfebedürftigen auch tatsächlich unterstützen zu können.
Wer mit einer Menge unterhalb der Obergrenze erwischt wird, muss nicht ins Gefängnis (was niemandem helfen würde), sondern muss zum "Ausschuss zur Bekämpfung der Drogensucht". Hier wird geprüft, ob es konsumbezogene Probleme gibt, es wird aufgeklärt und Therapien angeboten. Erst bei wiederholtem Verstoß wird ggf. ein Bußgeld verhängt.
(Unserer ehemaligen Drogenbeauftragten Mortler war die Situation in Portugal bis ins Jahr 2014 übrigens nicht bekannt.)
Also seit 20 Jahren läuft eine Studie in Europa unter realen Bedingungen, die zeigt...ja, was zeigt sie denn? Heute nur Junkies in Portugal, Verelendung, Kriminalität, ...?
Die Lebenszeitprävalenz ging in diversen (nicht allen) Altersgruppen zurück. Von 2001 bis 2006 von 14,1% auf 10,6% bei den 13-15jährigen und von 27,6% auf 21,6% bei den 16-18jährigen. Bei älteren Gruppen ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen, wie er auch in anderen EU-Ländern vorliegt.
In 2006 liegt die Kosumprävalenz sowohl von Jugendlichen, wie auch der Gesamtbevölkerung unterhalb der des EU-Durchschnitts. Der befürchtete Drogentourismus ist ausgeblieben.1999 hatte Portugal EU-weit die meisten HIV-Infizierten unter injizierenden Drogenkonsumenten. Im Jahr 2000 waren das fast 1400 Personen, sechs Jahre später waren es ca. 300. Der Anteil der Drogenkonsumenten unter den HIV Infizierten geht seither kontinuierlich zurück. Vor der Entkriminalisierung ist die Zahl der Drogentoten seit Ende der 80er Jahre permanent gestiegen und lag 1999 bei knapp 400. Die Zahl der opiatbedingten Drogentoten hat sich zwischen 2000 und 2006 halbiert (von 281 auf 133).
Wir in Deutschland schauen diesem Spektakel seit 20 Jahren zu, müssten eigentlich sehen, dass die Ziele, die wir in Deutschland verfolgen, in Portugal erreicht werden. Dennoch bleiben wir auf dem Pfad der Prohibition, man will ja kein "falsches Signal" setzen. Noch schlimmer: es wird immernoch behauptet, dass das, was in Portugal faktisch passiert, bei einer Entkriminalisierung in Deutschland nicht, bzw. Gegenteiliges zu erwarten ist.
BR - 5 Gründe, warum wir die Drogenpolitik Portugals nachahmen sollten (2016)
Cato Institute - Drug Decriminalization in Portugal (2009)
Cannabisfakten - DIE KOSTEN DER CANNABIS-PROHIBITION IN DEUTSCHLAND (2018)
Nach einem Wechsel von Prohibition zu Regulierung bleibt die Faktenlage, also das Konsumverhalten weitgehend so, wie sie war - mit dem Unterschied, dass nun anders, also sachlich, damit umgegangen wird. Das ist wie, wenn ich mit dem Rad über die portugiesisch-spanische Grenze fahre: die Landschaft bleibt genau die gleiche, nur steht jetzt eben Spanien oben drüber.
Warum ist der Gedanke an eine Regulierung für viele so schwierig? Die Menschen konsumieren schon immer und werden es auch bis zum Ende der Menschheit tun - mit oder ohne Verbot, mit oder ohne Drogenkrieg, mit oder ohne Todesstrafe. In Deutschland bewerben wir Alkohol und bekämpfen Cannabis. Dadurch werden Millionen Menschen kriminalisiert, denn die meisten denken nun Mal nicht: „das würde ich schon gerne machen, aber leider ist es verboten“. Es gibt bei den meisten Menschen eine subjektiv wahrgenommene Grenze, bis zu welcher sie Eingriffe der staatlichen Gewalt in ihre persönliche Freiheit akzeptieren. Die ist nach meinem Empfinden bei der Auswahl der Gartenpflanzen erreicht.
Diese gefühlte Grenze scheint es auch in anderen Ländern zu geben: im Iran ist Cannabis leicht verfügbar und legal,
allerdings ist der bei uns so beliebte Alkohol verboten. Bei Verstößen drohen
Peitschenhiebe, Gefängnis oder -bei wiederholten Verstößen- die Todesstrafe.
Dennoch wird im Iran getrunken. Dennoch gibt es dort Millionen
Alkoholabhängige. Auch dort versagt die Prohibition.
Deutschlandfunk Kultur - Der Durst der Iraner nach Freiheit (2020)
Ärzteblatt - Trotz Alkoholverbots sind fünf Millionen Iraner abhängig (2018)
Pablo Escobar, durch seine Drogengeschäfte zu seiner Zeit einer der reichsten Menschen der Welt, hatte gegen Ende seiner "Karriere" Kokain tonnenweise per Flugzeug in die USA verfrachtet. Eine einzige Lieferung entsprach mehreren Millionen Konsumeinheiten. Die Amerikaner werden das ja wahrscheinlich nicht zum Backen verwendet haben. Nachdem Reagan die Gangart verschärft hat und dafür sorgte, dass in zwei Jahrzehnten Hunderttausende Amerikaner wegen Drogendelikten hinter Gittern landeten (heute sind es 12x mehr als noch 1980), investierte die erste Bush Administration 12 Mrd. $ in den „war on drugs“. Alles, was diese Investition über Jahrzehnte bewirkt hat, ist, dass sie nichts bewirkt hat. Zumindest nichts Gutes. Ein riesengroßer Fail. Während dieser Krieg Milliarden Dollar und bis heute Hunderttausende Leben kostet(e), kam um 1990 so viel Kokain in die USA, dass jeder einzelne Einwohner von Los Angeles, der zweitgrößten Stadt im Land, statistisch fast 2 g/Monat konsumieren konnte.
Rolling Stone - How America Lost the War on Drugs (2011)
Für viele unvorstellbar, aber eine Tatsache: es soll Menschen geben, die regelmäßig verantwortungsbewusst Cannabis konsumieren und gleichzeitig ein völlig normales Leben führen. Stellen wir uns beispielhaft eine US-Bürgerin vor, die abends lieber ab und zu einen Joint raucht, als ein Glas Wein zu trinken. Vielleicht macht sie es nur zur Entspannung, vielleicht hat es bei ihr auch einen zusätzlichen therapeutischen Zweck, weil ihre Rückenschmerzen besser werden oder sie besser schlafen kann. Sie ist verheiratet, hat Kinder, mit denen sie sonntags in die Kirche geht. Sie arbeitet seit vielen Jahren in derselben Firma, hat dort eine gute Position. Das Haus ist fast abbezahlt. Manchmal konsumiert sie wochenlang überhaupt nicht. Sie würde ihr Leben als gelungen und glücklich bezeichnen.Da man in ihrem Abfalleimer Reste eines Joints gefunden
hat, kommt es eines nachts dazu, dass eine bewaffnete Spezialeinheit das Haus stürmt,
die Kinder traumatisiert, um sie dann wegen eines Funds von
einigen Zehntelgramm Cannabis ins Gefängnis zu stecken. Spätestens jetzt hat sie
wirklich ein Problem. Bis zu diesem Augenblick war alles in Ordnung, ihre
Entscheidungen haben niemandem geschadet.
Jetzt jedoch ist sie gesellschaftlich
geächtet, verliert ihren Job, zahlt keine Steuern mehr und kann ihre Familie
nicht mehr unterstützen. Ihre Firma verliert eine verlässliche Gruppenleiterin. Ihre Kinder werden von ihrer Mutter getrennt. Sie wird selbst zur
Steuerlast für die Gesellschaft, steigt im Gefängnis womöglich auf andere
Substanzen um, entwickelt vielleicht eine Sucht und bekommt nach der Haftzeit
keinen Job mehr, weil niemand einen „Junkie“ einstellen will. Die Kinder
wachsen zeitweise ohne ihre Mutter auf, der Vater muss plötzlich alleine für Einkommen und Betreuung sorgen, etc.
Das ist ein zentraler Punkt des Problems: die Strafe ist für den Betroffenen vielfach schädlicher, als die Substanz selbst. So viel Cannabis kann kein Mensch konsumieren, um so einen immensen Schaden an sich, an seiner Familie und an der Gesellschaft anzurichten.
In dem Buch „Neustaat“ wird eine Leistungskontrolle für Gesetze vorgeschlagen. Für den Zweck des Gesetzes werden Zielwerte und ein Zeitraum definiert. Nach Ablauf der Frist wird von einem unabhängigen Gremium geprüft, inwieweit das Ziel erreicht wurde. Gibt es Zweifel, muss der Gesetzgeber aktiv werden und z.B. anpassen. Ohne Aktion des Gesetzgebers verfällt das Gesetz. Das halte ich besonders im Kontext des BtmG für eine spannende Idee!
Heilmann et al. - Neustaat (2020)
Das Cannabisverbot, das das Ziel verfolgt, den Missbrauch von Betäubungsmitteln zu verhindern, ist laut Richter Müller vom Amtsgericht Bernau verfassungswidrig. Damit schlägt er in dieselbe Kerbe, wie auch der Schildower Kreis, dessen Resolution zur "Notwendigkeit der Überprüfung der Wirksamkeit des Betäubungsmittelgesetzes" bis 2015 von 123 Strafrechtsprofessoren unterschrieben wurde. Auch André Schulz, Chef des Bunds Deutscher Kriminalbeamter hält die Cannabisprohibition für "weder intelligent noch zielführend." Laut Müller ist dieses Gesetz nicht erforderlich, nicht geeignet und nicht verhältnismäßig.Es ist ungeeignet, weil es Konsumenten nicht davon abhält zu konsumieren. In Deutschland tun das heute ca. vier Mio. Menschen – trotz Verbot und Strafverfolgung. Es ist nicht erforderlich, da es mildere Maßnahmen gibt, den Konsum zu beschränken, Suchtprävention zu stärken. Und die Frage, ob es verhältnismäßig ist, dem Bürger mit strafrechtlichen Sanktionen zu begegnen, wenn er die falsche Pflanze im Garten stehen hat, haben wir oben schon diskutiert. Eine entsprechende Prüfvorlage liegt aktuell beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
dw - "Nur dumme Politiker wollen Cannabis verbieten" (2019)
Ärzteblatt - Richter lässt Cannabisverbot in Karlsruhe prüfen (2020)
Schildower Kreis - Drogenprohibition gescheitert, schädlich und teuer
Handelsblatt - So kam es zum Cannabis-Verbot in Deutschland (2018)
Müller: „...ist es dringend geboten, dass sich das Bundesverfassungsgericht, das sich nun über 26 Jahre nicht mehr mit der Cannabis-Prohibition auseinandergesetzt hat, mit der Frage befasst, ob die Verfolgung von Millionen von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wegen des Umgangs mit Cannabis noch zeitgemäß ist und den Ansprüchen einer freiheitlichen Gesellschaft und dem Auftrag des Grundgesetzes, insbesondere Minderheiten zu schützen, entspricht.“
Wieder mal eine grandiose Übersicht! Bin tatsächlich gespannt, wie lange es bei uns noch dauert, bis hier sinnvolle Regelungen geschaffen werden. Dafür bräuchten wir m.E. aber erstmal qualifiziertes Personal an den entsprechenden Stellen in der Politik. Das wird sicherlich noch dauern. Das Einzige, was sonst hilft - was man ja auch gerade beobachten kann - ist, dass die Bevölkerung aufklärt und aufgeklärt wird, so dass Politiker irgendwann allein aus Wiederwahlgründen ihre Meinung ändern.
AntwortenLöschen"Habt ihr mal im Stuttgarter Schlosspark erlebt wie am hellen Nachmittag aus dem nichts Polizeisprinter gleichzeitig aus allen Himmelsrichtungen kommen und jede/n kontrollieren (mit Gummihandschuhen), die/der die "falsche" Hautfarbe hat? Ich habe mit einem Freund mitten im Zentrum des Geschehens gepicknickt und wir wurden nicht mal angesprochen, geschweige denn kontrolliert."
Ohja, absolut verrückt! Habe allerdings auch beobachtet, dass immer noch wenigstens eine weiß oder deutsch aussehende Gruppe mit kontrolliert wird, damit man den Cops keine Vorurteile vorwerfen kann :D so lächerlich. Ich stelle mir das dann so vor: "Hey Leute, sorry, dass wir euch jetzt auch noch belästigen, aber wir müssen leider so tun, als würden wir bei euch auch ernsthaft nach Drogen suchen..." und die Durchsuchung läuft dann ungefähr so ab: https://media.tenor.com/images/b09b9ded0433f5cd4cde51e206ede675/tenor.gif
Alles was du in dem Text beschrieben hast, kann man übrigens auch nahezu 1:1 auf so viele andere Bereiche kopieren. Zum Beispiel die dauernde Leier, dass Bitcoin Geld für Kriminelle wäre, während weltweit agierende Großbanken fast wöchtenlich in irgendwelche Geldwäscheskandale verwickelt sind, in denen ausschließlich mit Dollars oder Euro gehandelt wird... Während ich hoffe, dass das Internet uns weiterhin so viel Transparenz bietet, Missstände zügig anzuprangern habe ich gleichzeitig große Sorge, dass es von mächtigen Spielern so hart manipuliert wird, dass der breiten Masse wieder nicht geholfen ist. Mal sehen wie wir in 10 Jahren darüber denken.
Ok, genug geschrieben, wünsche Dir weiterhin eine unfassbar bereichernde Reise! Lass es Dir gut gehen :)
Hammer! Richtig starker Text. Der hat eine deutlich größere Bühne verdient!! "ein Elfenbeinrückenkratzer weniger für ihn"
AntwortenLöschenIch schmeiß mich weg 🤣🙏🙏🙏